30. November 2011

Das Meer der Geschichte

Hier ein Text, den ich vor Jahren mal erstellt habe als ich mich mit der Literatur des frühen 20. Jahrhundert beschäftigte. Es geht um die Relativität von Historie und natürlich das (endlose) Spiel von Worten und Gedanken. 


Das Meer der Geschichte 
Noch immer herrscht unter den Menschen der Aberglaube, dass jenes Gebilde, welches wir „Menschheitsgeschichte“ nennen, uns unverwechselbare Wahrheiten verkündet und uns mit Persönlichkeiten bekannt macht, welche so und nicht anders handelten und sprachen, doch dies ist, wie gesagt, ein Aberglaube, mehr noch, ein Selbstbetrug, denn in Wirklichkeit sind wir es ganz allein, die den Lauf der Geschichte erfunden haben. Wir haben versucht, eine Linie durch die Zeit zu ziehen, zurück, immer weiter zurück und wir beriefen uns auf alte Fundstücke aus Gräbern und Erdhöhlen, doch vor allem auf die Schätze unzähliger Archive und Bibliotheken, die wir auf Papier gebannt fanden. Die Worte aus den Alkoven der Zeiten wähnten uns unzweifelhafte Wahrheiten zu erzählen, und wir fingen an, viele kluge Gedanken darüber zu verfassen, die wie Denkmäler wurden – Kolosse aus Papier und Tinte, die niemand wagen sollte, anzutasten oder gar nieder zu brechen. Wir verehren unsere Professoren und Doktoren, die uns mit so vielen brillanten Worten aufklären über die Welt des Altertums und bewundern sie aufgrund ihres Scharfsinns, mit dem sie uns die Tatsachen und Fakten vergangener Zeiten offenbaren und vor Augen setzen und wir glauben ihnen blindlings, denn wo soviel Weisheit und Klugheit zu finden ist, da kann es Irrtum und Lüge kaum geben.

So verfallen wir, obwohl wir Spätgeborenen ja inzwischen von der Relativität der Dinge und auch der Sprache wissen - wie es uns Einstein und Nietzsche lehrten - immer wieder in diesen Irrglauben, die Geschichte als ein feststehendes Gebäude zu betrachten, welches nicht wanken könne. Denn in unserem Innersten fürchten wir uns sehr, dass es uns den Boden unter den Füßen, die Fundamente unseres Lebens, entreißen könnte. Würde nämlich die Geschichte ihr Gesicht verändern, so würde uns auch die Maskerade der Gegenwart gewahr, und es würde keinen Ort mehr geben, zu dem wir flüchten könnten, und wir würden uns wieder finden in einem unendlichen und uferlosen Meere, welches uns zu verschlingen drohte. Ja, wir würden noch erkennen, dass wir nur als winzige Punkte in einem Ozean trieben, dessen Urgewalten wir ausgeliefert sind. Die Wellen dieses Ozeans zerrissen unseren Faden, den wir so sorgsam gewoben haben, um uns scheinbar mit der Vergangenheit zu verknüpfen. Die gewaltigen Zeiten der Vorväter wären uns für immer verloren und entfernt, nur wenn wir leibhaftig zurück schwämmen zu ihren alten und verwitterten Gestaden, könnten wir ihrer noch ansichtig werden. Doch halten gerade Leib und Raum den Weg ver-wehrt und wachen mit dem scharfen Schwert des Cherubim, dass wir die Linie des Diesseits nicht überschreiten, weder vor noch zurück.
Würden wir also unserer ozeanischen Lage gewahr, so erkennten wir die Höhen der Menschheit als die Gipfel der stolzen Wellen, welche ihr Spiel mit uns treiben, ein Spiel, welches gelenkt wird von uns unbekannten und fremden Mächten, genauso wie wir den Irrtum begriffen, den Fall und Niedergang als eine Strafe des Schicksals zu sehen oder als kausale Folge unseres eigenen Handelns. Denn der pure Zufall, das unberechenbare Zusammenspiel des Gewässers der Zeiten war es doch, welches dies bedingte. Jenes aber folgt keinem Gesetz, welches wir begreifen könnten, denn dafür müssten wir jenseits aller Zeiten einen Blick in die Welt werfen können. Dies ist uns Sterblichen aber verwehrt, seit jenen Tagen, da wir vom Baum der Erkenntnis kosten wollten.
Doch können wir, trotz unserer misslichen Lage, genau diesem Spiel des Schicksals uns anvertrauen, ja, wir müssen es sogar, wenn wir nicht untergehen wollen. Wir müssen durch die Höhen und Tiefen, die die Zeit uns befiehlt und kräftig unsere Glieder gebrauchen, um nicht in die Tiefe gezogen zu werden. Doch eines Tages werden auch wir vergehen, wie alle Dinge vergehen und auch wir werden getrennt durch die Zeit von jenen, welche nach uns kommen. Und es wird so manches über uns gesagt und geschrieben werden; hörten wir es, wir würden nur den Kopf schütteln und uns fragen, wie ein solches Gespinst aus Lügen entstehen konnte. Wie würde doch die Menschheit, welche vor uns lebte, die Stimme erheben, um Einspruch einzulegen gegen all die Behauptungen, die über sie aufgestellt werden!

Es ist uns Menschen nicht beschieden, die eherne Wahrheit allen Seins zu begreifen, nicht wir klopfen die heiligen Gesetze des Zeitenlaufs in steinerne Tafeln. Nein, wir können nur schauen und den kleinen Kreis unserer eigenen Zeit leben. Aber auch diese geringe Lebenszeit ist ja durchwühlt von unnachahmlichen Gewalten, von denen wir uns nur ein schattenhaftes Bild machen können, einen annähernden Eindruck in unseren Seelen verschaffen können. Bescheiden müssen wir werden, nur erahnen und nachfühlen können wir, was wir zu erkennen meinen. Ja, wir können diese Erkennt-nisse sogar in Worte fassen, doch sollten diese nur „Geschichten“ und nicht „die Geschichte“ heißen. Wir können die alte Zeit als Spielstätte unserer Phantasie gebrauchen, wir können einzelne Eindrücke miteinander verweben zu einem scheinbaren Ganzen, ganz wie die Alten, als sie begannen, die Mythen der Welt zu sammeln und in Annalen und Historien zu verstricken. War doch bei ihnen Mythos noch Wirklichkeit und Wirklichkeit noch Mythos und hielten sie doch stets den Kopf gesenkt im Wissen um ihre Unwissenheit.
In diesem Geiste wage auch ich es, Geschichten aus den lang vergangenen Tiefen der Zeit zu fabulieren und bunte Gebilde von Ideen und Eindrücken zu errichten. Möge der geneigte Leser von mir nicht die Wahrheit erwarten, sondern sich nur erfreuen am Spiel der Worte, welches hier und da seinen Geist in die Höhe hebt oder ihn zu erschüttern vermag. Wo er einen geheimnisvollen Plan oder eine offensichtliche Wahrheit zu erkennen glaubt, sei er gewarnt: mit den Worten ist es wie mit der Zeit – sie laufen ineinander und auseinander und niemand weiß, wer ihre Bahn lenkt!

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